Von Geburt an ist Berührung die Basis für die Erfahrung unserer Welt und Grundlage für unsere Verbundenheit mit uns selbst und anderen Menschen. Die Psychotherapeutin Vera Schmidt-Riese nimmt uns mit auf die Reise vom Embryo bis zum Erwachsenen und erläutert, welch wichtige Rolle Berührung in unserem Leben und in der therapeutischen Arbeit spielt.
Text: Vera Schmidt-Riese | Foto: Xenia Gromak / Photocase
Die Haut ist unser größtes Organ, das uns zugleich mit der äußeren Welt verbindet und von ihr abgrenzt. An ihr und durch sie geschieht Berührung. In der Sprache finden sich viele Bilder, die ausdrücken, dass die Haut uns nicht nur schützt, sondern wir mit ihr empfinden. So sprechen wir davon, dass wir dünnhäutig sind oder ein dickes Fell haben, eine Gänsehaut kriegen oder erleben, dass uns etwas unter die Haut geht. Manchmal könnten wir aus der Haut fahren, aber in der Haut eines anderen möchten wir auch nicht stecken.
Wir sind in der Lage, etwas mit Haut und Haaren zu tun. All das können wir hautnah erleben. Die Haut, über die wir Berührung erfahren, entwickelt sich aus dem Ektoderm, dem äußeren Keimblatt des frühen Embryos, wie auch das Gehirn und die anderen Sinnesorgane. Das bedeutet, dass sich Haut und Gehirn aus den gleichen Zellen entwickeln und als Einheit funktionieren. Die Erfahrung von Berührung steht deshalb im Zusammenhang mit einer Vielzahl geistiger Aktivitäten, der Gedanken, der Sprache, der Entwicklung unserer Kognition, also aller Prozesse, die mit der Wahrnehmung zusammenhängen. Ein Kind erfährt in seiner Entwicklung über Berührung die Welt und kann sie nur so „begreifen“.
Berührung ist etwas Grundlegendes. Schon in der achten Woche der Embryonalzeit entwickelt sich der taktile Sinn und damit die Berührungsempfindung. Berührung ist unsere erste Sprache, sie begleitet uns ein Leben lang und ist überlebensnotwendig.
Die Geburt selbst ist eine intensive Erfahrung für die Druckrezeptoren in Haut und Muskeln. Gerade auf die Welt gekommen, landet das Baby im besten Fall auf dem Bauch der Mutter und kann, seinem Impuls der Selbstanbindung folgend, zur Brust robben. Im Gehaltenwerden und beim Stillen erfährt der Säugling liebevolle Berührung. Neben Stimme und Blickkontakt vermittelt ihm die Berührung, gewollt und geliebt zu sein. Wenn sich die Mutter, der Vater oder eine andere Bezugsperson auf das Baby einstimmt, seine Bedürfnisse beantwortet werden, entsteht Bindungssicherheit. Das hat unmittelbare Auswirkung auf das autonome Nervensystem, stimuliert den ventralen, also mit dem Bauch verbundenen Vagusnerv und ermöglicht Gefühle von Verbundenheit, Sicherheit und Lebendigkeit. Gerade nach Zustände des Unwohlseins, des „Außersich-Seins“, in die ein Baby in seiner Hilflosigkeit schnell gerät, geht es darum, wieder Beruhigung zu erfahren und in ein grundlegendes Gefühl von Wohlbefinden zurückkehren zu können. Dazu braucht der Säugling die ruhige Präsenz eines Erwachsenen, durch den das Nervensystem reguliert wird.
Dieses Phänomen, dass ein Nervensystem sich am anderen orientiert, wird Co-Regulation genannt. Es ist der Weg, auf dem das kindliche Nervensystem nach und nach lernt, sich selbst zu regulieren. Erfährt das kleine Kind zu Beginn seines Lebens sichere Bindung und immer wieder gelingende Co-Regulation, erleichtert ihm das im späteren Leben, sich selbst zu regulieren und eine Ichidentität zu entwickeln.
Grundlegend gibt es zwei Wahrnehmungswege: Berühren und Berührtwerden, Geben und Empfangen. Was berührt mich? Kann ich mich berühren lassen? „Es berührt mich“ erzählt von einer inneren Bewegung, dass etwas bei mir ankommt, mein Herz erreicht, mich inspiriert. Das kann sich in einer Begegnung mit einem Gegenüber ereignen, aber auch mit der uns umgebenden Welt, die wir durch unsere Sinne erfahren. Alles, was meine Augen, meine Ohren erreicht, kann mich berühren. Insbesondere ist die Kunst in der Lage, uns durch Klänge, Worte oder Bilder zu berühren. (…) Mehr