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Sharon Salzberg | Exklusiv-Interview

Sharon Salzberg ist eine der bekanntesten Meditationslehrerinnen des Westens. 1969 entdeckte sie den Buddhismus, reiste nach Indien und erlernte die Vipassana-Meditation. Sie hat die Insight Meditation Society gegründet und engagiert sich weltweit als Rednerin, Autorin und Lehrerin. Zudem nimmt sie an internationalen Konferenzen teil und teilt ihr Wissen in Diskussionen mit dem Dalai Lama.

Interview: Hemma Rüggen | Foto: Tawni Bannister

Meditation ist unter anderem ein Weg, die Verbindung mit der Welt zu erfahren. Doch wenn ich meditiere, frage ich mich oft, ob ich es wirklich fühlen kann oder ob es nur ein Konzept oder eine Idee ist. Es ist so einfach, zu sagen, dass wir alle miteinander verbunden sind, aber wenn wir uns anschauen, wie wir uns tatsächlich verhalten, sieht es nicht so aus. Wie kann man diese Verbundenheit in der Meditation erfahren?

Wenn man an Meditation denkt, stellt man sie sich oft als einsame Tätigkeit vor, vielleicht mit geschlossenen Augen oder ganz allein, aber das Endergebnis ist wirklich ein sehr starkes Gefühl der Verbundenheit mit allem Leben. Je besser wir uns selbst verstehen, desto mehr bekommen wir ein Gefühl dafür. Wenn wir verwirrt oder fehlgeleitet sind, wenn wir eine falsche Vorstellung davon haben, was uns Glück bringen wird, dann handeln wir oft unangemessen, verletzen oder betrügen andere Menschen oder verbergen manches. Wenn man jemanden beobachtet, der sich so verhält, ahnt man, dass auch er wahrscheinlich aus Verwirrung und Missverständnissen in Bezug auf das Leben handelt.

Dieser Mensch verhält sich so, als würde er sein Leben der Trennung widmen, dem Ausnutzen anderer. Und man denkt: Wie klein, wie traurig ist das denn?! Das ist eine Möglichkeit. Eine andere ist, dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem Ganzen zu haben – und es geht nicht darum, dies in jeder einzelnen Meditationssitzung zu spüren. Wenn ich in ein Unternehmen gehe, um Unterweisungen zu geben, stelle ich gern folgende Frage: „Wie viele Menschen müssen ihre Arbeit gut machen, damit du deine Arbeit gut machen kannst?“ Denn so isoliert wir uns auch fühlen mögen, tatsächlich sind wir Teil eines Netzwerks, eines größeren Ganzen. Denk nur an dein Essen und die vielen Wesen, die daran beteiligt sind: Jemand hat einen Samen in die Erde gepflanzt, jemand hat die daraus gewachsene Pflanze geerntet und transportiert, jemand hat sie dir verkauft, damit du sie zubereiten kannst. Die Wahrheit ist, dass wir Teil eines Universums sind, in dem alles mit allem verbunden ist. Und je mehr ich meditiere, desto stärker spüre ich, dass man in allen möglichen Situationen, auch außerhalb der Meditation, manchmal einfach nachdenken und feststellen kann: Oh, eigentlich bin ich gar nicht so allein.

Du sprichst von Menschen, die andere verletzen, und davon, dass sie uns leidtun können. Aber wir leben in einer Welt des zunehmenden Hasses und der Wut, wie wir es jeden Tag in den Nachrichten erleben. Es gibt dieses tiefe Gefühl der Isolation, eine Pandemie der Einsamkeit, eine zunehmende Verbreitung von Hass und Politiker, die Kriege anzetteln. Schon vor zwölf Jahren hast du gemeinsam mit Robert Thurman ein Buch mit dem Titel Love Your Enemies geschrieben. Was genau bedeutet es, seine Feinde zu lieben?

Der Titel kann missverständlich aufgefasst werden. Bei einer Zoom-Sitzung mit Freunden sagte ich gestern, dass eins der beunruhigendsten Dinge im derzeitigen politischen Klima für mich der Triumph des Hasses sei. Eine der Teilnehmerinnen hatte ein kleines Hörproblem und fragte: „Wer hat das gesagt? Woher stammt das Zitat?“ Und ich sagte, es käme aus meinem Hirn, und dass dies eine Quelle großer Sorge für mich sei. Wenn wir von Liebe oder Mitgefühl sprechen, muss man sehr genau nachforschen, um zu verstehen, was wir wirklich meinen, denn die landläufige Vorstellung, dass dies ein Zustand der Schwäche oder ein Akt des Nachgebens sei, bei dem wir uns den Handlungen eines anderen beugen und nicht protestieren, keinen Standpunkt einnehmen oder keine Grenze setzen – das muss es gar nicht bedeuten. Denn wenn wir von liebender Güte oder Mitgefühl sprechen, dann ist das nicht etwas, das unser Handeln bestimmt. Es ist etwas, das unsere Motivation prägt, das Warum unseres Handelns.

Sagen wir etwas zu einer hasserfüllten Äußerung? Antworten wir sanft oder bissig darauf? Das ist eine andere Frage, aber auf der Grundlage von Mitgefühl oder liebender Güte schauen wir uns den Kontext an: Was ist die Geschichte dahinter? Was ist jetzt wohl die geschickteste Antwort und die beste Reaktion? Und vielleicht fällt diese heftig oder intensiv aus, vielleicht setzt man eine Grenze. Wenn wir Mitgefühl oder liebende Güte entwickeln, handeln wir nicht mehr so sehr aus Angst oder Hass und können trotzdem überaus stark sein. „Liebt eure Feinde“ ist natürlich eine Art religiöser Ausdruck. Als das Buch für die Erstveröffentlichung vorbereitet wurde, sollte der Titel lauten: „Liebt eure Feinde. Das wird sie in den Wahnsinn treiben“. Das hat mir sehr gut gefallen, weil der Zusatz dem Ganzen eine besondere Wendung gab. Wenn da nur „Liebt eure Feinde“ stünde, hatte ich die Befürchtung, könnten die Leute denken, es sei eine Art selbstgerechte Moralpredigt, die fordere, man müsse eine ganz andere Art Mensch werden. Aber dann entschied der Verlag, den zweiten Teil des Titels wegzulassen. Ich war zu der Zeit in London, ich ging gleich ins englische Büro des Verlegers und rief das amerikanische Büro an. Ich sagte: „Bitte tut das nicht. Lasst das nicht weg.“ Aber sie haben es trotzdem getan. Der Ursprungstitel hat also mehrere Bedeutungen: Die eine ist, dass wir, wenn wir jemandem gegenüber liebende Güte empfinden, ihm wünschen, er möge frei von den Dingen sein, die sein Leben so klein und unverbunden machen. Wir sagen nicht: Mögest du mit deinem schrecklichen Verhalten triumphieren oder mögest du mit dem, was du planst und ausheckst, Erfolg haben. Wir fühlen, dass er sich besser verhalten würde, wenn er frei von Hass, Furcht und Wahnvorstellungen wäre.

Es wäre eine bessere Welt, und das ist ein Teil davon. Die Menschen wollen nicht bewusst Hass und Spaltung fördern, weil sie erfüllte Wesen sind. Das tun sie wirklich nicht, und ich weiß, dass es schwer ist, dorthin zu gelangen. Jemand hat einmal die Frage zu Politikern gestellt: „Leiden sie? Wenn ich Einblick in ihr Leiden bekäme, könnte ich Mitgefühl haben, aber sie scheinen sehr selbstzufrieden zu sein.“ Diese Frage ging an 15 Personen auf einem Podium, und ich war eine von ihnen. Alle waren still – denn es ist ja eine schwierige Frage. So habe ich schließlich das Wort ergriffen und gesagt: „Ich verstehe, was du sagen möchtest, und ich fühle mit dir. Aber ich weiß, dass ich schlecht handle, wenn ich von einem Ort des Unheils komme, und so betrachte ich meinen eigenen Geist und Körper wie ein Labor. Ich glaube wirklich, dass die Menschen auf die Art und Weise handeln, die von diesem inneren Ort ausgeht.“ Aber am wichtigsten ist, zu verstehen, dass die Kultivierung von liebender Güte und Mitgefühl nicht das ist, wofür wir sie vielleicht halten. Es geht nicht darum, einfach nachzugeben und zu sagen: „Es ist okay“, denn das ist es nicht. (…) Mehr

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