Was als Hobby begann, wurde bald zur Obsession und dann zum Beruf: Lukas Irmler ist einer der wenigen professionellen Slackliner, die im Gegensatz zu Hochseilartisten nicht auf einem straff gespannten Seil, sondern auf einem wenig gespannten Kunstfaserband zum Beispiel von einem Wolkenkratzer zum anderen balancieren. Lukas Irmler hat unter anderem die Viktoriafälle, einen Vulkankrater und die höchsten Gipfel der Alpen überquert – und dabei der Angst getrotzt.
Text: Marlies Eichelberger | Foto: Lukas Barth
Während unter ihm der Sambesi Hunderte Meter in die Tiefe stürzt, ist Lukas Irmler in luftiger Höhe von einem kreisrunden Regenbogen umgeben. Er zeigt der ganzen Welt seine Kunst des Slacklining und balanciert auf dem zweieinhalb Zentimeter breiten Band über die Viktoriafälle von Simbabwe nach Sambia.
Vermutlich beschreibt diese Momentaufnahme sein Wirken als Extremsportler am besten. Als mehrfacher Weltrekordhalter hat der 36-Jährige bereits einen ganzen Strauß von Abenteuern vorzuweisen und ist dabei durch ebenso viele Facetten der Angst gegangen. Ob er auf über 5.700 Metern über den Krater des aktiven Vulkans Misti in Peru balanciert und damit einen neuen Höhenrekord aufstellt oder die Seven Summits der Alpenländer – den jeweils höchsten Gipfel aller sieben Alpenländer – auf einer Slackline begeht, Lukas Irmler setzt seine großen Visionen allen Widrigkeiten zum Trotz um und kreiert fantastische Postkartenmomente. Da geht es mit einer Highline – einer Slackline in schwindelerregender Höhe – von einem Gipfel zum nächsten, mit einer Deepline, die in Höhlen zum Einsatz kommt, 500 Meter tief Richtung Erdinneres oder auf einer Ice-Line über eine Schlucht von einem gefrorenen Wasserfall zum anderen. Zu sehen sind diese waghalsigen Unternehmungen in den Social Media, im Internet und in Büchern.
Verrückt und trotzdem safe
So unmöglich und gefährlich mancher Balanceakt in kaum vorstellbarer Höhe von Lukas Irmler wirken mag, ist er doch ein sicherheitsliebender Mensch. „Ob es ums Privatleben oder die Finanzen geht, da bin ich eher der Typ Festgeldkonto. Ich will schon wissen, dass ich safe bin.“ Ihm macht es viel mehr Spaß, Dinge zu probieren, die körperlich herausfordernd sind und für die es auch mal viele Versuche braucht, statt sich Free Solo, sprich im Alleingang, einem Todessturz auszuliefern. Da verschiebt er lieber mit einer Sicherung seine Grenzen. Die wurden allerdings immer grenzenloser, bis er nun Kontinent für Kontinent erschlossen hat. Geografisch fehlt nur noch die Antarktis. Seine Slackline dort zu spannen, ist ein noch unerfüllter Traum, was ihm wiederum die Sicherheit gibt, dass es immer noch Neues zu erleben gibt.
Safe ist auch sein Werdegang. Wer glaubt, einen unbedarften Freigeist vor sich zu haben, irrt. Lukas Irmler hat sich mit seinen erfolgreich absolvierten Studien in Chemie und Wirtschaft solide gebildet. Dieser Hintergrund hilft ihm auch, wenn es um seine große Leidenschaft geht: dort über seine Slackline zu gehen, wo er eine einzigartige Perspektive auf die Welt hat. Behörden, Sponsoren und Nationalparks wollen überzeugt und ein verlässliches Team für jedes Vorhaben gewonnen werden. „Dabei bin ich wahnsinnig glücklich, dass ich vom normalen Weg abgewichen bin, auf mein Herz gehört und das gemacht habe, wofür ich wirklich eine Leidenschaft hatte. Sonst würde ich jetzt irgendwo im Labor stehen“, lacht er. Im Grunde ist er selbst erstaunt, was alles aus dieser mutigen Entscheidung erwachsen ist, den weißen Kittel gegen die Sportkleidung zu tauschen, und dass ein Beruf daraus werden konnte, auch wenn Slacklinen an manchen Tagen nur noch zehn Prozent seiner Zeit einnimmt.
„Träume wachsen, wenn man sie lebt“
„Mir war’s immer schon wichtig, für meine Ziele zu arbeiten, für meine Ideen einzutreten und meinen Weg zu gehen“, zeigt sich Lukas Irmler selbstbewusst. Gemeinsam mit Freunden hatte er das Material der Slackline kennengelernt, erst einige Meter über dem Boden, auf dem Wäscheständer der Nachbarin, dann hatte er immer höher hinausgewollt. Raus aus jeglicher Komfortzone, die er als selbst erschaffenen Käfig beschreibt, und seinen Vorbildern folgen: Eine Slackline am Lost Arrow Spire im Yosemite-Nationalpark beschreiten wie Dean Potter oder ein Pionier sein wie der Hochseilartist Philippe Petit zwischen den Zwillingstürmen in New York 1974. Unweigerlich brachte ihn diese Einstellung Schritt für Schritt zum Erfolg. (…) Mehr