Als Medizinpsychologe erforscht Prof. Dr. Niko Kohls seit mehr als 25 Jahren intensiv die Entstehung von Resilienz, Stressbewältigungsfähigkeit und Selbstregulationskompetenz. Wie wir lebenslang aus Krisen und Ausnahmesituationen lernen können und wie das unsere innere Widerstandskraft, die Resilienz, fördern kann, erklärt er in diesem Beitrag anhand von Vorgängen in unserem Gehirn und Nervensystem.
Text: Niko Kohls
In jedem menschlichen Leben spielen Krisen, Herausforderungen und Bedrohungen eine große Rolle. Ein Leben ohne sie ist schwer vorstellbar. Wir haben uns in den letzten 200 Jahren allerdings angewöhnt, den Begriff Krise vorwiegend negativ zu verwenden, weil wir uns in unserer komplexen Lebenswelt zunehmend mit Risiken und Unsicherheiten schwertun. Allerdings steht Krise in seiner ursprünglichen Bedeutung seit der Antike im medizinischen Kontext für den Zeitpunkt im Verlauf einer Krankheit, in dem sich eine rasche Wendung zum Guten oder Schlechten vollziehen kann. In ihr liegt also auch immer eine Chance für Transformation und Entwicklungsprozesse.
Ohne Krisen bräuchten wir auch keine höheren Bewusstseinsfunktionen, weil in diesen Situationen innovative Problemlösungen und Anpassungsleistungen gefragt sind. Die Fähigkeit zur Achtsamkeit, also die spezifische Kompetenz, die Aufmerksamkeit so zu kultivieren, dass neue Wahrnehmungskategorien und Verhaltensmuster entstehen können, spielt für Lernprozesse und somit für jede Problembewältigung eine zentrale Rolle. Als Folge von Erfahrungen werden im Gehirn dann neuronale Verbindungen geschaffen, differenziert oder auch aufgelöst, in denen das neu erworbene Wissen bzw. die neu erworbenen Kompetenzen so eingebettet werden, dass wir mit Anomalien und Herausforderungen umgehen können. Erinnern Sie sich beispielsweise daran, wie Sie Fahrradfahren gelernt haben: erst mit Stützrädern, zunächst gehalten von den Eltern und dann eigenständig? Dabei haben Sie zuerst – unter den skeptisch-besorgten Blicken der Erwachsenen – das Geradeausfahren gelernt und dann das schwierigere Kurvenfahren.
Für solche herausfordernden Situationen ist unser Gehirn eine Art Detektor, denn es reagiert auf ein Problem mit erhöhter Aufmerksamkeit. Die damit einhergehende Stressantwort wird von einer Erhöhung des Bereitschaftspotenzials in der Großhirnrinde begleitet. Möglich wird das z.B. im Zusammenspiel mit der Ausschüttung von Hormonen, die zu einer Steigerung des Herzschlags, Blutzuckerspiegels und Blutdrucks führen. Bestimmte Gehirnregionen wie der Hypothalamus, die Amygdala oder die Hypophyse, aber auch das Frontalhirn spielen hier ebenfalls eine zentrale Rolle.
Die drei Herausforderungen einer Krise
Die verschiedenen Facetten einer Krise und die damit verbundenen Anforderungen, die sie an uns stellt, kann man mithilfe des Wortes „Aufheben“ veranschaulichen. Denn dieser Begriff hat drei unterschiedliche Bedeutungen, die für die Krisenbewältigung psychologisch relevant sind und in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden müssen, wenn man die Krise meistern will:
Zunächst bedeutet „aufgehoben“, dass die subjektive Normalitätswahrnehmung durch ein äußeres oder inneres Ereignis derart destabilisiert wird, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verlieren.
Zweitens fordert die Situation vom Individuum eine Anpassungsleistung, durch die es in die Lage versetzt wird, das Problem zu lösen oder durch Veränderung seiner Wahrnehmung und Einstellung angemessen zu reagieren. Wenn das Problem nicht bewältigt werden kann, muss man es innerlich „aufheben“, also beibehalten. Das geschieht durch eine Transformation der bisherigen Identität, sodass man nun mit dem Vorhandensein des Problems leben kann.
Dadurch wird man drittens in die Lage versetzt, das verborgene Potenzial zu bergen, das in dem durch die Krise angestoßenen Entwicklungs- oder Lernprozess enthalten ist. Auf einer neuen Entwicklungsebene angekommen und somit „aufgehoben“ im Sinne von geborgen, ist das Individuum „ein neuer Mensch“ geworden, weil die Erfahrung integriert wurde. (…) Mehr