Dankbarkeit hat viele Facetten: Wissenschaftlichen Studien zufolge stärkt sie das Immunsystem, fördert die Gesundheit und macht uns glücklich. Darüber hinaus hat Dankbarkeit eine tiefere Dimension und wird in allen Weltreligionen als Tugend geschätzt. In bewusst gelebter Form kann sie sogar zum spirituellen Weg und zur Lebenskunst werden.
Text: Ursula Richard | Illustrationen: Rie Takeda
„Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.“ – Jean-Baptiste Massillon
Eine ältere Frau läuft den Bahnsteig entlang, will den abfahrbereiten Zug noch erreichen. Ein junger Mann, auf den nachfolgenden Zug wartend, sieht das, stellt sich in die Tür des Zuges. Er reicht der Frau seine Hand, sodass sie sicher einsteigen kann. „Vielen Dank“, sagt sie noch ganz außer Atem und lächelt. „Gern“, sagt der Mann, strahlt ebenfalls und springt aus dem Zug.
An der Supermarktkasse lassen Sie eine junge Frau vor, denn sie scheint es eilig zu haben; vor der Tür gibt ein Mann einem Obdachlosen etwas Geld in seinen Becher, reicht ihm den heißen Tee, den er im Laden für ihn gekauft hat, ihre Blicke kreuzen sich – kurze, flüchtige Alltagsmomente, die wir meist ganz schnell wieder vergessen, in denen aber ganz viel geschieht: Menschen nehmen einander wahr, erkennen, was der andere gerade braucht, und sind bereit, es zu geben, freiwillig, unaufgefordert. Solch kostbare, gar nicht so seltene Augenblicke entzünden in uns den Funken angenehmer, wärmender Gefühle von Verbundenheit, Freude – und Dankbarkeit. Dankbarkeit verbindet uns miteinander. Sie ist Ausdruck oder Bestätigung einer Beziehung des Gebens und Nehmens, so flüchtig diese auch sein mag, so klein die Gabe auch ist – und sie tut gut! Das wurde in den letzten Jahren mehr und mehr auch in der psychologischen und medizinischen Forschung erkannt: Dankbarkeit ist eine allumfassende Grunderfahrung des Menschen, die wesentliche Auswirkungen auf sein körperlich- seelisches Befinden hat. Mittlerweile gilt sie als wichtiger Baustein eines glücklichen – und eines gesunden – Lebens. Dankbarkeit stärkt das Immunsystem, trägt damit zu mehr Energie, Wachheit, Enthusiasmus und Vitalität bei, verbessert den Umgang mit Stress, unterstützt Gefühle von Sinnhaftigkeit und Resilienz und wirkt positiv auf das Herz-Kreislauf-System und die Blutdruckregulation. Sie stärkt das Selbstwertgefühl und erleichtert den Umgang mit Belastungen. Wer dankbar ist, verhält sich hilfsbereiter, und das wiederum verbessert die eigenen sozialen Beziehungen, man kann positive Erfahrungen mehr genießen und erlebt weniger schwierige, leidbringende Gefühle wie Ärger, Eifersucht, Groll oder Schuld. Es ist nicht möglich, gleichzeitig dankbar und ärgerlich oder feindselig zu sein. Dankbarkeit gilt heute als eine der machtvollsten Kraftquellen für ein glückliches, erfülltes Leben.
Dankbarkeit als spiritueller Weg
Als eine solch wirkmächtige Kraftquelle wird die Dankbarkeit schon von alters her in den Religionen betrachtet. Eingebettet in das jeweilige Glaubenssystem, drückt sie sich in Bitt-, Lob- und Dankgebeten, in Ritualen, Zeremonien und Festen aus. In den monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – wird Gott durch solche Gebete nicht als ein fernes, unpersönliches Gegenüber erfahren, sondern als das große DU, zu dem der Mensch in einer aktiven, gestaltenden Beziehung steht. „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen“, sagt Meister Eckhart. Für den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber verläuft der Weg zur Gotteserkenntnis über den Weg der Mitmenschlichkeit, und so kann die Dankbarkeit gegenüber Mitmenschen als ein Weg der Dankbarkeit Gott gegenüber verstanden und auch eingeübt werden. Ähnlich im Islam: „Derjenige, der anderen gegenüber nicht dankbar ist, ist nicht dankbar gegenüber Allah“, heißt es dort. (…) Mehr