Wie kommt es, dass wir scheinbar unangenehme oder langwierige Aufgaben immer wieder aufschieben? Und was können wir tun, um diese Verhaltensweise endlich abzulegen? Christiane Wolf beleuchtet das komplexe Phänomen der Prokrastination und wie uns der Anfängergeist, einfache Tricks und die Neustart-Praxis helfen können, die Aufschieberitis zu überwinden.
Text: Christiane Wolf | Foto: George Hodan
Zu mir als Meditationslehrerin kommen oft Menschen, die etwas in ihrem Leben verändern wollen, z.B., dass sie Dinge immer auf die lange Bank schieben, oder sie wollen die Beziehung mit anderen Menschen verbessern. Meistens haben sie schon viele gescheiterte Versuche hinter sich und sind ratlos.
Sharon Salzberg ermutigt die Teilnehmer ihrer Kurse und Retreats, wann immer die Aufmerksamkeit vom Anker des Atems abgeschweift ist und sie sich in Gedanken verlieren, einfach wieder neu anzufangen: „Just start over.“ Such nicht nach einer Erklärung oder Entschuldigung, warum du abgeschweift bist. Sobald du bemerkst, du bist anderswo, komm zurück und beginn von Neuem. Nichts könnte einfacher sein. Sharon erzählt, wie sie selbst lernen musste, sich nicht von den Meinungen, Gefühlen, Geschichten und Verurteilungen des Geistes weiter ablenken zu lassen, sondern klar und beharrlich zum Anker zurückzukehren, bis der Geist schließlich begann, sich zu beruhigen. „Just start over“ wurde zu ihrem Mantra.
Genau das üben wir in der Meditation.
Shunryu Suzuki schreibt in seinem Zen-Klassiker Zen-Geist, Anfänger-Geist: „Wenn dein Geist leer ist … ist er für alles offen. Für den Anfänger gibt es viele Möglichkeiten, für den Experten jedoch nur wenige.“ Das ist das Geschenk des Anfängergeistes, des Neubeginns. Wir bringen die alten Geschichten und Bewertungen nicht in die Situation hinein. Wir können Dinge aus einer neuen Perspektive sehen, mit mehr Raum und Gelassenheit.
Diese Praxis hilft nicht nur während der Meditation, sondern auch im Alltag. Wenn wir ein Verhaltensmuster verändern wollen, haben wir damit meist schon eine lange Geschichte. Vielleicht wissen wir, warum wir uns so verhalten, können es aber trotzdem nicht ändern. Oder wir glauben, wir müssten erst herausfinden, wieso wir etwas nicht lassen oder nicht ändern können, bevor es tatsächlich passieren kann.
Die Haltung ändern
Mit der Meditationspraxis sind wir ganz bescheiden. Wir verändern nicht die Umstände – zumindest zunächst nicht –, sondern unsere innere Haltung. Wir tun, was uns am Herzen liegt, so gut wir es in diesem Moment können. Können wir innehalten und in diesem Moment neu anfangen, wenn wir merken, dass wir auf dem falschen Weg sind? Wenn eine Reise von tausend Meilen mit diesem Schritt beginnt, wie Laotse sagt, dann geht
sie auch mit diesem Schritt weiter. Und mit diesem. Und mit diesem. Der einzelne Schritt ist nicht groß und auch nicht bedeutend, und deshalb unterschätzen wir ihn. Ziele sind wichtig, weil sie dem Leben Richtung geben, aber das Leben findet im Strom unzähliger kleiner Momente statt. Und selbst das Erreichen eines Ziels ist nur ein Moment, der von neuen Momenten abgelöst wird.
Welches Verhalten möchtest du verändern? Beobachte in den nächsten Wochen, was passiert, wenn du in dem Moment, in dem du dich so verhältst, nicht neu beginnst, sondern dich in Verurteilungen, Abwertungen oder Hoffnungslosigkeit verstrickst. Gibt es einen Teil, der überzeugt ist, dass Veränderung entweder gar nicht oder erst passieren kann, wenn du genau weißt, warum du so bist, wie du bist?
Dann übe Neubeginnen:
Hab Mitgefühl mit dir selbst dafür, dass es so schwierig ist. Es ist schmerzhaft, sich in einem reaktiven Geist zu verlieren. Bemerk, wie viel Zeit und Energie du verschwendest, um etwas zu rechtfertigen oder nicht zu tun. Das klar zu sehen, hilft, die Motivation für die Neustart-Praxis zu erhöhen. Praktizier „Ja, und“ statt „Ja, aber“. Zum Beispiel: „Ja, ich habe den Fokus verloren und jetzt fange ich wieder neu an.“
Der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald hat es einmal sehr schön in die Worte gefasst: „Vitalität zeigt sich nicht nur in der Fähigkeit durchzuhalten, sondern auch in der Fähigkeit, von vorn zu beginnen.“
Prokrastination
Eine besonders weit verbreitete Angewohnheit, nicht mit einem Neustart (oder überhaupt nicht) zu beginnen, ist die Prokrastination.
Heute morgen setzte ich mich an meinen Schreibtisch, fest entschlossen, diesen Artikel weiterzuschreiben. Ich nahm mein Handy, um mir den Timer auf 30 Minuten zu stellen.
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