„Unsere Welt ist so groß wie die Freude an ihr“, sagt Ariadne von Schirach. Denn Freude kostet erst einmal kein Geld, sondern fordert von uns lediglich den aufmerksamen Blick für die schönen Momente des Lebens. Diesen Blick zu kultivieren, bedeutet, Freude zur Lebenskunst zu machen – trotz aller äußeren Widrigkeiten oder der Menschen und Dinge, über die wir uns im Alltag ärgern. So wird die Freude auch zur verbindenden Kraft, denn die schönste Freude ist bekanntlich die, die wir mit geliebten Menschen teilen.
Text: Ariadne von Schirach | Illustrationen: Julia Vanessa Maier
Für meinen Vater, der mich das Freuen gelehrt hat.
Die Freude hat mir das Leben gerettet, ein Leben, das schwierig begann. Und sie schenkt mir das Leben, wieder und wieder, indem sie mich verführt, tröstet und einlädt, lieber darüber nachzudenken, welcher Mensch ich sein könnte, als mit dem Menschen zu hadern, der ich anscheinend bin. Die Freude ist die Hand, die das Leben mir ausgestreckt hat, Gelächter und Genuss, Schönheit und Lieblichkeit, Leckeres, Heiteres, Tiefklares.
Oh, glänzendes Morgenlicht, so sanft und so stark. Silbernes Meer, blaue Stunde, violette Blüten auf grünem Grund. Das weiche Fell einer Katze. Ein perfektes Ei und ein Brötchen, lieber zwei. Bilder. Bücher. Basso continuo. Der Geruch meines Kindes, die braunen Augen meines Bruders, wie mein Mann manchmal lächelt. Ein Satz in einem Buch, der Fremdes in Vertrautes verwandelt.
Die Freude lässt uns auf der Welt heimisch werden, wegen allem und trotz allem zugleich. Sie ist die einzige positive der sechs menschlichen Grundemotionen. Angst, Trauer, Ekel und Wut sind negativ, Überraschung neutral. Ich stelle mir das immer wie eine Art Ampel vor. Wenn man froh ist, ist sozusagen „grünes Licht“, und man kann einfach so weitermachen. Bis die Ampel auf Rot springt und wir uns ärgern oder wütend oder traurig sind. Dann müssen wir innehalten. Nachdenken. Den Kurs korrigieren.
Die Freude lädt uns also zum Verweilen ein, die negativen Gefühle fordern uns zum Verändern auf. Aber wir wissen: Ewiger Sonnenschein macht Wüste. Deshalb gilt es auch, die Freude nicht blind zu konsumieren, sondern bewusst zu kultivieren.
Freude kultivieren
Beginnen wir mit der einfachen Erkenntnis, dass in jedem Augenblick so viel los ist, Schönes und Schreckliches, Zusammenhängendes und Zerrissenes, dass es uns Menschen mit unserer doch recht beschränkten Wahrnehmung gar nicht möglich ist, das, was ist, in seiner Ganzheit zu erfassen. Wir nehmen immer nur etwas wahr – doch was wir wahrnehmen, ist von Gewicht.
Der Evolutionsbiologie verdanken wir die Einsicht, dass wir Menschentiere dazu neigen, Störendem mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem, was gut läuft. Deshalb sind die Nachrichten so negativ, und deshalb denkt man viel länger über eine blöde Mail nach als über ein nettes Gespräch oder den schönen Abendhimmel. Wir sind schief in die Welt gestellt, was durchaus Sinn machte, als das kleinste Rascheln eines Säbelzahntigers den Tod bedeuten konnte, aber in der heutigen Welt nur zu Stress, Angst und Burn-out führt.
Angesichts dieser biologischen Schieflage hilft nur die Selbstaufrichtung, was schlicht bedeutet, der unbewussten Negativität ein bewusstes Festhalten am Guten, Schönen und Erfreulichen entgegenzusetzen. Eine tägliche Praxis der Dankbarkeit, die damit beginnen kann, schon morgens im Bett fünf Dinge aufzuzählen, für die man dankbar ist. Freude erhöht sich, wenn man sich ihrer bewusst ist – das ist auch so eine Sache, dass man die schönen Momente des Lebens oft weder wahrnimmt noch zu schätzen weiß – nein, nein, heute mal ein kleines Gebet für die liebe Nachbarin und ein Dank für die unerwartet milde Luft. Abends sind wir eingeladen, den Tag bewusst zu gewichten und dem unvermeidlichen Lautwerden von allem, was genervt hat, das unbeirrbare Wichtigwerden von allem, was genährt hat, entgegenzusetzen (…) Mehr