Es ist an der Zeit, eine ganzheitliche Sicht auf Körper und Geist zu etablieren, denn beide sind über unser Gehirn untrennbar miteinander verbunden. Im Bereich der Medizin spiegelt sich dieser Paradigmenwechsel im Boom der Mind-Body-Medizin wider, die darauf abzielt, den ganzen Menschen zu behandeln und uns zu befähigen, Krankheiten selbst aktiv vorzubeugen und unsere inneren Selbstheilungskräfte zu aktivieren.
Text: Anne Frobeen
Jede Minute des Tages scheint unser Geist ein Eigenleben zu führen. Wir freuen uns, sind traurig oder haben Angst, wir denken und erinnern, spüren Impulse oder Verlangen. Diese inneren Aktivitäten nennen wir Geist oder Seele, englisch „mind“. Wir erleben sie als fließend, aufdringlich, eigenständig, mal beängstigend, mal wunderschön. Und manchmal kommt es uns vor, als wäre der Geist von unseren körperlichen Prozessen getrennt.
Doch die wissenschaftliche Forschung mit ihren modernen Methoden in Medizin, Neurowissenschaft, Psychologie und anderen Fachrichtungen hat gezeigt: Geist und Körper hängen zusammen, und ihr Bindeglied ist das Gehirn. Einer der führenden Experten für Mind-Body-Medizin in Deutschland ist Tobias Esch, Facharzt für Allgemeinmedizin, Gesundheitswissenschaftler und Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. Er sagt: „Gehirn und Geist sind untrennbar, sie sind eins. Sie bestehen aus der gleichen Substanz. Selbst das Bewusstsein ist letztlich Körper, ist Gehirn. Und über diese Verbindung entsteht ein therapeutischer Ansatz zur Beeinflussung der Gesundheit, körperlich und geistig – und zwar in beide Richtungen.“
Aus der Forschung wissen wir z.B.: Wir brauchen uns eine Bewegung nur vorzustellen, und schon aktivieren wir motorische Nervenzellen. Allein dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf unser Erleben richten, können wir unseren Stoffwechsel beeinflussen und zur Ruhe kommen. Unser Lernen verändert das Gehirn immer wieder neu. Und ein Übermaß oder zu lang andauernder Stress schwächt unsere Immunabwehr und setzt Entzündungsprozesse in Gang.
Stress beeinflusst unsere Gene
Wir wissen auch: Ohne die Fürsorge und das Da-Sein von anderen können wir nicht überleben. Fehlt ein sicheres soziales Umfeld, bedeutet das zum Beispiel für Babys lebensbedrohlichen Stress. Die Effekte von Stress lassen sich bis auf die Zellebene nachweisen. Dabei spielen epigenetische Prozesse eine wichtige Rolle, Vorgänge beim Ablesen der Erbinformationen. Sie schalten manche Gene an, andere ab. Dadurch wird der Stoffwechsel der Zelle beeinflusst. Auch Traumata wie Gewalt oder Vernachläs-sigung hinterlassen nachweisbare Spuren. Sie führen auf zellulärer Ebene zu einer dauerhaft größeren Anfälligkeit für Entzündungen und dadurch zu einem größeren Risiko für Krankheiten.
Umgekehrt stärken wir nicht nur unseren Körper, wenn wir uns ausreichend bewegen, wir verbessern auch unsere Stimmung und helfen unserem Selbstwertgefühl auf. Gezieltes Bewegungstraining kann selbst Depressionen lindern. Und ernährungswissenschaftliche Studien zeigen mehr und mehr, dass es einen Zusammenhang zwischen einer schlechten Ernährung und der Verschlimmerung von psychischen Störungen wie Angst und Depression gibt.
Bruce McEwen, einer der wichtigsten Neuroendokrinologen und Stressforscher aus den USA, stellte 2019 fest: „Es ist zweifelsfrei so, dass wir viele gesundheitliche Probleme selbst verhindern oder erleichtern können. Zum Beispiel, indem wir mehr schlafen, gesünder essen, uns mehr bewegen, Einsamkeit lindern und ein unterstützendes soziales Netzwerk schaffen – und indem wir lernen, unser Nervensystem durch Achtsamkeitstraining selbst zu regulieren. Es liegt letztendlich an uns, die Kontrolle über unseren Körper und unser Leben zu übernehmen.“
Mit dem Geist den Körper beeinflussen
Genau hier setzt die Mind-Body-Medizin an. In einer Definition des National Institute of Health der USA heißt es: „Die Mind-Body-Medizin ist eine Disziplin, die sich auf den wechselseitigen Einfluss von Gehirn, Körper, Geist (Mind) und Verhalten fokussiert. Und darauf, wie emotionale, mentale, soziale, spirituelle Erfahrungen und Verhaltensaspekte die Gesundheit direkt beeinflussen können.“
Ihre Techniken nutzen die Fähigkeiten des Geistes, um körperliche Funktionen zu beeinflussen und die Gesundheit zu fördern. Das Ziel ist, die Selbstfürsorge zu stärken und das Wissen der Patientinnen und Patienten über sich selbst zu erweitern. (…) Mehr