Kaum ein Gefühl hat in unserer Gesellschaft einen derart schlechten Ruf wie die Aggression. Wer zum Beispiel Wut zeigt, gilt schnell als ungehobelt und primitiv. Aber Aggression ist nicht nur destruktiv. Sie ist vielmehr eine Kraft, die uns hilft, klare Grenzen zu ziehen, eindeutig Ja oder Nein zu sagen, unsere Ziele zu erreichen und vieles mehr. Aggression ist ausgerichtete Energie – sie lässt uns etwas in Angriff nehmen. Ein Plädoyer für die Versöhnung mit einer vernachlässigten Ressource.
Text: Anke Precht | Foto: Markus Dietze
Dieser Artikel singt ein Loblied auf die Aggression, die wir als starke Kraft ins Leben integrieren können, statt sie zu verteufeln. Denn die Aggression steht immer noch mehr in Verruf als Egoismus oder Macht. Würde man eine Hitliste der Eigenschaften machen, die Menschen auf keinen Fall haben wollen, würde es die Aggression bis ganz nach oben schaffen. Jeder hat eine klare Meinung zu ihr, fast alle lehnen sie ab – sogar jene, die betreten zugeben, ihr manchmal anheimzufallen.
Aggression ist keinem unbekannt. In jedem von uns regt sie sich manchmal. Man würde gern aus der Haut fahren, jemandem an den Hals springen, davonrennen, etwas ist kaum auszuhalten, man ist kurz vorm Ausflippen. Und manchmal passiert es auch, da reißt einem die Hutschnur, man dreht durch, rastet aus. Nicht selten sind es Schwächere, die es dann abbekommen.
Aggression unterscheidet uns vom Salat
Das hat der 2020 verstorbene Arzt für Psychotherapie Dr. Wolf Büntig gesagt. Er schätzte die Aggression. „Ohne Aggression wären wir tot“, sagte er. Gerade ihre Unterdrückung führt dazu, dass sie sich oft so zerstörerisch äußert und jene verletzt, die nichts dafürkönnen. Und die Aggression zerfrisst jene, die sie mühsam unterdrücken. Das Problem liegt weniger an ihr als vielmehr an unserem Umgang mit ihr. Eigentlich ist sie gut.
Folgen wir dem Wortstamm, finden wir uns im Latein wieder. Das Verb „aggredere“ heißt zwar „angreifen“, aber auch „etwas in Angriff nehmen“. Es kommt von „an etwas herangehen, etwas angehen“. Aggression ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung die Kraft, die uns in Bewegung setzt. Ohne Aggression stehen wir auf der Stelle, da, wo uns das Leben hingestellt hat. Wie Salat: Wenn die Schnecken kommen, ist er geliefert. Wer Aggression besitzt, hat Glück. Er muss sich nicht fressen lassen.
Aggression unterscheidet Tiere von Pflanzen. Sie ist pure Energie, die in Bewegung setzt. Sie befähigt uns, uns vom Fleck zu bewegen, Motivation in Handeln umzusetzen und unsere Beine und Arme zu benutzen, die ohne sie einfach nutzlos herumhängen würden.
Die drei Formen der Aggression
Aggression kann in drei verschiedene Richtungen zielen, je nachdem, was die Motivation zur Bewegung ausgelöst hat. Die erste Form der Aggression: Da hingehen, wo wir hinwollen, dahin, wo es gut und gesund für uns ist oder besser als da, wo wir gerade sind. Die zweite Form ist: Da weggehen, wo es schlecht ist, wo es uns schadet, wo wir nicht sein dürfen, wie wir sind, wo wir uns nicht entfalten können. Die dritte Form: Gegen das angehen, was uns angreift oder zerstören will, wenn die anderen beiden Formen nicht genutzt werden können oder nicht ausreichen.
Die erste Taekwondo-Stunde meiner Kinder, Bambini-Training, Mädels und Jungs im Alter von vier bis sechs. Nachdem die Kinder gelernt hatten, wie man den Trainer begrüßt, einen ehemaligen Europameister, bat er sie, sich zu setzen. „Was macht ihr, wenn euch jemand angreift?“, fragte er. „Kämpfen!!!“, schrien die Kinder begeistert. „Falsch!“, sagte der Trainer. „Wenn euch jemand angreifen will, dann redet erst mit ihm.“ Lange Gesichter bei den Kindern. „Und was macht ihr, wenn das nicht klappt und der andere nicht aufhört?“, fragte der Trainer. „Kämpfen!“, schrien die Knirpse. „Nein! Ihr lauft weg.“ Noch längere Gesichter. „Und was macht ihr, wenn das nicht reicht?“ „Kämpfen?“, fragte vorsichtig und leise nur noch eins der Kinder. „Genau. Dann kämpft ihr. Aber erst dann.“
Diese Lektion war eine wunderbare Lehrstunde in Aggression. Sie illustriert nicht nur die drei möglichen Richtungen der Aggression, sondern auch die Reihenfolge, die in dieser speziellen Situation die richtige ist. Erst reden, um da hinzukommen, wo man sein möchte: bei einem friedlichen Miteinander. Wenn das nicht geht: weggehen von dem, was man nicht möchte, dem Kampf. Und drittens, aber erst, wenn weglaufen auch nichts hilft: kämpfen. (…) Mehr