Moment by Moment

Inmitten verschwommener Lichtpunkte ist die Kontur eines Menschen zu erahnen

A Wandering Mind

Das Umherschweifen unserer Gedanken, ist ein komplexer Vorgang im Gehirn, den Forscher gerade erst zu verstehen lernen. Der permanente innere Dialog in unserem Kopf wurde lange als ziel- und damit nutzlos, wenn nicht sogar als schädlich angesehen, etwa in Form von ständigem Grübeln. Neuere Studien zeigen jedoch, dass Mind-Wandering viele positive Seiten hat, die mithilfe regelmäßiger Meditation kultiviert werden können.

Text: Stefanie Schweizer

Wer kennt das nicht: Man liest ein Buch und zwei Seiten später weiß man nicht mehr, was man gerade gelesen hat. „Mein Kopf war woanders“, sagen wir und meinen, dass unsere Gedanken nicht bei unserer momentanen Aktivität, sondern ganz woanders waren. Der Begriff „Mind-Wandering“ bezeichnet eben dieses Umherwandern oder Abschweifen unserer Gedanken. Es ist eine ganz besondere Leistung, die das menschliche Gehirn dabei vollbringt. So ist der Mensch im Gegensatz zu den Tieren in der Lage, sich in Gedanken zu vertiefen, die mit seiner augenblicklichen Situation nichts zu tun haben. Dank evolutionärer Prozesse kann unsere Spezies jederzeit mental abdriften – in die Vergangenheit, in die Zukunft, in Dystopien, Utopien oder sogar in die Fantasiewelten unserer Tagträume.

Eine Erklärung hierfür fand der Neurowissenschaftler Marcus Raichle von der Washington University in St. Louis im Jahre 2001 mit der Entdeckung des sogenannten Default-Mode-Netzwerks. Eine Art Werkseinstellung des Gehirns, ein Ruhezustand, in den es sich begibt, sobald es nicht mehr auf eine Aufgabe konzentriert ist. In diesem Modus macht unser Hirn jedoch keine Pause, sondern ist anderweitig aktiv: Es beschäftigt sich mit sich selbst, verarbeitet Erlebtes, plant Neues oder träumt einfach vor sich hin.

Erste Studien

Seinen schlechten Ruf verdankt das Mind-Wandering vor allem einer Studie aus dem Jahr 2010: Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert von der Harvard University stellten in ihrem Track your Happiness-Projekt Probanden mittels einer App Fragen zu deren Aktivitäten und den dabei auftretenden Gedanken und Emotionen. Die Ergebnisse waren verblüffend: Das menschliche Hirn ist fast die Hälfte der Zeit damit beschäftigt, abzuschweifen. Brisant erschien dabei, dass die Probanden eher zu negativen Gedanken tendierten und oft ins Grübeln gerieten. Sie waren glücklicher, wenn sie sich auf das konzentrierten, was sie im Moment machten. Selbst wenn der Fokus auf einer eher ungeliebten Tätigkeit wie zum Beispiel dem Staubsaugen lag, war die empfundene Zufriedenheit der Probanden größer als beim unkontrollierten Umherschweifen ihrer Gedanken.

Weitere Studien kamen zu einem ähnlichen Ergebnis: Das Mind-Wandering wurde in Zusammenhang mit psychischen Krankheiten wie zum Beispiel Depressionen gebracht. Eine neuere Studie aus dem Jahr 2020 stellte einen Bezug zu Stress her und deckt sich mit den Ergebnissen der Aufmerksamkeitsforscherin Amishi Jha, die zeigen, dass unsere Aufmerksamkeit und unser Arbeitsgedächtnis in besonders stressigen Situationen deutlich nachlassen (siehe unser Interview in moment by moment 4/2020).

Die positive Seite

Das ist allerdings nur eine Seite der Medaille, was sich auch in Killingsworths und Gilberts Studie findet, wenn man sie genau liest. In einem Nebensatz erwähnen die Autoren, dass der Mensch dem Mind-Wandering die Fähigkeit zum Lernen, Planen und Schlussfolgern verdankt. Amishi Jha betont ebenfalls, wie wichtig das Umherschweifen unserer Gedanken ist. Ein aktives Default-Mode-Netzwerk helfe uns, Informationen und Erlebnisse zu erinnern, eigene wichtige Gedanken zu erkennen sowie Empathie und Verständnis für andere Menschen aufzubringen.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt eine 2021 veröffentlichte Studie der Universität Berkeley, Kalifornien, die Forscher um den Neurowissenschaftler und Psychologen Robert Knight durchgeführt haben: Probanden wurden verschiedene Aufgaben gestellt, die unterschiedliche Hirnnetzwerke beanspruchen – darunter langweilige, monotone Tätigkeiten, bei denen die Gedanken der Probanden verstärkt abzuschweifen begannen. Gleichzeitig wurden ihre Hirnströme im EEG gemessen, und es zeigte sich, dass mit dem Mind-Wandering eine starke Alphawellen-Aktivität in den Frontallappen des Gehirns einherging. Solche Alphawellen sind langsame Hirnströme mit einer Frequenz von etwa acht bis zwölf Hertz, die auch regelmäßig in der frühen Phase des Schlafs auftreten und für Entspannung in den Frontallappen sorgen, die für Konzentration und Planung zuständig sind. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Sommer-Ausgabe 02/2022: Kreativität. Die schöpferische Kraft in uns selbst entdecken.

„Unsere Gedanken schweifen zu lassen, kann uns tatsächlich dabei helfen, Probleme zu lösen, wenn die Konzentration darauf nicht funktioniert.“

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